Projekt

Literarischer Zweifel. Skeptizismus und das Dilemma der Wahrheitsfindung in der mittelhochdeutschen Epik (12. bis 14. Jahrhundert)

Im Mittelpunkt des Projektes steht das topische Wissen um den Zweifel, der als eine Methode der Wahrheitsfindung in der mittelhochdeutschen Epik des 12. bis 14. Jahrhunderts produktiv ist. In den innerliterarischen Auseinandersetzungen um die Deutungshoheit über alternative Wahrheiten und widersprüchliche Meinungen evoziert gerade der Zweifel (in kognitiver oder emotionaler Wirksamkeit) einprägsame Metaphern, Sinnbilder und rhetorische Figuren, aber auch poetische (Erzähl-)Verfahren, Motive und Figurentypen, die von der Forschung bislang nicht im Sinnzusammenhang eines ‚literarischen Skeptizismus‘ gesehen wurden. Ziel ist es daher, allererst eine heuristische Perspektive für die Analyse zu entwerfen, um die Episteme, die in den episch-weltlichen Erzähltraditionen seit dem 12. Jahrhundert einen Wirkungsraum gefunden haben, systematisch aufdecken zu können. Der ideengeschichtliche Ansatz des Projektes basiert auf der Prämisse, die mittelhochdeutsche Literatur als einen genuinen Bestandteil einer Wissenskultur zu verstehen, in der skeptische Argumentationsformen deutlich vor der frühneuzeitlichen Säkularisierung als ein verborgenes kulturelles Wissen zu greifen sind. Von Interesse sind daher die literarischen Szenen vor einer Urteilsfindung, in denen die Suche nach Eindeutigkeit und die Versuche einer Wahrheitsgenerierung kritisch hinterfragt werden, in denen das Wahre als eine relationale Größe diskutiert wird (auf Figuren- oder Erzählerebene) und gleichwertige Alternativen und Normvorstellungen aufgezeigt und abgewogen werden (Poetik, Rhetorik). Im Fokus steht damit die konkrete Frage, auf welche Art und Weise sich in den Antiken-, Minne- und Abenteuerromanen, in den klassisch höfischen Romanen und der höfischen Heldenepik, aber auch in den höfischen Legenden und der Novellistik ein im weitesten Sinne erkenntniskritischer Zweifel eigene Argumentationsräume schafft.

Die literarischen Reflexionsmöglichkeiten der diskursiven und medialen Ausdrucksformen des Zweifels lassen sich dafür vorab auf zwei thematische Kerne reduzieren. Untersucht werden zum einen die ästhetischen Ausdrucksformen eines in Worten und Taten abwägenden Denkens und Beurteilens, in denen die Ausgeglichenheit von Argumenten oder ‚Fakten‘ vorgeführt wird, um die Wahrnehmungsmöglichkeiten des Wahren als relational oder gar eine Urteilsenthaltung als sinnvoll erscheinen zu lassen (Akzeptanz subjektiver Wahrnehmung; Ideal der Ataraxie, Epoché). Von Interesse sind zudem die Szenen und Erzählverfahren, in denen das Aufzeigen von Gegensätzen und das Abwägen unterschiedlicher Meinungen schließlich doch zu einer begründeten Gewissheit führen. Zum anderen liegt ein Schwerpunkt auf den Wahrnehmungstäuschungen, die Anlass zum generellen Zweifel geben. Besonders interessant ist hier der Traum, der in skeptischen Debatten dafür bekannt ist, die Verlässlichkeit von Sinneswahrnehmungen und damit einhergehend die Rechtfertigung von Wissen zu hinterfragen – konstruktive, erkenntnistheoretische Debatten können die Folge sein. Vor allem nachklassische Artusromane bieten hier aussichtsreiche Anknüpfungspunkte.

Das Projekt widmet sich somit in vielfältiger Hinsicht den literaturhistorischen Ansätzen eines ‚höfischen Skeptizismus‘ im 12. bis 14. Jahrhundert. Für die Forschung öffnet sich damit ein systematischer Blick auf mögliche Wechselwirkungen zwischen Zweifelsdiskurs und der deutschsprachigen Epik des Mittelalters.